Bitte um Verständnis

Eines meiner Lieblingsgedichte.
Die dritte Strophe gefällt mir am besten, deshalb habe ich sie fettgedruckt.

AN DIE NACHGEBORENEN

1

Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!

Das arglose Wort ist töricht. Eine glatte Stirn
Deutet auf Unempfindlichkeit hin. Der Lachende
Hat die furchtbare Nachricht
Nur noch nicht empfangen.

Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!
Der dort ruhig über die Straße geht
Ist wohl nicht mehr erreichbar für seine Freunde
Die in Not sind?

Es ist wahr: ich verdiene noch meinen Unterhalt
Aber glaubt mir: das ist nur ein Zufall. Nichts
Von dem, was ich tue, berechtigt mich dazu, mich satt zu essen.
Zufällig bin ich verschont. (Wenn mein Glück aussetzt
Bin ich verloren.)

Man sagt mir: iß und trink du! Sei froh, daß du hast!
Aber wie kann ich essen und trinken, wenn
Ich es dem Hungernden entreiße, was ich esse, und
Mein Glas einem Verdurstenden fehlt?
Und doch esse und trinke ich.

Ich wäre gerne auch weise
In den alten Büchern steht, was weise ist:
Sich aus dem Streit der Welt halten und die kurze Zeit
Ohne Furcht verbringen
Auch ohne Gewalt auskommen
Böses mit Gutem vergelten
Seine Wünsche nicht erfüllen, sondern vergessen
Gilt für weise.
Alles das kann ich nicht:
Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!

2

In die Städte kam ich zu der Zeit der Unordnung
Als da Hunger herrschte.
Unter die Menschen kam ich zu der Zeit des Aufruhrs
Und ich empörte mich mit ihnen.
So verging meine Zeit
Die auf Erden mir gegeben war.

Mein Essen aß ich zwischen den Schlachten
Schlafen legt ich mich unter die Mörder
Der Liebe pflegte ich achtlos
Und die Natur sah ich ohne Geduld.
So verging meine Zeit
Die auf Erden mir gegeben war.

Die Straßen führten in den Sumpf meiner Zeit
Die Sprache verriet mich dem Schlächter
Ich vermochte nur wenig. Aber die Herrschenden
Saßen ohne mich sicherer, das hoffte ich.
So verging meine Zeit
Die auf Erden mir gegeben war.

Die Kräfte waren gering. Das Ziel
Lag in großer Ferne
Es war deutlich sichtbar, wenn auch für mich
Kaum zu erreichen.
So verging meine Zeit
Die auf Erden mir gegeben war.
brecht

3

Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut
In der wir untergegangen sind
Gedenkt
Wenn ihr von unseren Schwächen sprecht
Auch der finsteren Zeit
Der ihr entronnen seid.

Gingen wir doch, öfter als die Schuhe die Länder wechselnd
Durch die Kriege der Klassen, verzweifelt
Wenn da nur Unrecht war und keine Empörung.

Dabei wissen wir ja:
Auch der Haß gegen die Niedrigkeit
Verzerrt die Züge.
Auch der Zorn über das Unrecht
Macht die Stimme heiser. Ach, wir
Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit
Konnten selber nicht freundlich sein.

Ihr aber, wenn es soweit sein wird
Daß der Mensch dem Menschen ein Helfer ist
Gedenkt unsrer
Mit Nachsicht.

Das Gedicht ist aus der Sicht eines Ich-Erzählers geschrieben, der wohl Brecht darstellt.
Es ist in drei Abschnitte geteilt. Der erste (Z.1-30) beschreibt die aussichtslose und ungewisse Situation der Menschen in „finsteren Zeiten“ (Z.1), also im Dritten Reich.
Brecht beschreibt zwei Arten von Bürgern. Die einen sind unwissend, naiv und verstehen die kritische Situation, in der sie leben, nicht. Ihr „argloses Wort ist [genauso] töricht“ (Z.2) wie „ein Gespräch über Bäume“ (Z.7). Sie sprechen über allgemeine und unwichtige Themen und hinterfragen das gewaltsame Handeln des Staates nicht. Dies sei ein Verbrechen, besonders weil über die Untaten geschwiegen wird. Brecht fordert Bewusstsein über die Situation und Sensibilität.
Die andere Gruppe, zu der sich Brecht zählt, lehnt das Regime zwar innerlich ab, passt sich jedoch äußerlich an. Sie haben noch das Nötigste zum Überleben, Brecht fragt sich aber, warum er Essen und Trinken hat, wenn anderen Menschen hungern. „Aber wie kann ich essen und trinken, wenn ich dem Hungernden entreiße, was ich essen und mein Glas Wasser einem Verdursteten fehlt“ (Z.17.19), hier benutzt Brecht eine rhetorische Frage, mit der er auf die Ungerechtigkeiten aufmerksam machen will. „Iß und trink du!“, befiehlt das Regime den Menschen. Mit dieser Ellipse werden jene reduziert und zu Untertanen gemacht. Sie können nur überleben, weil die Herrschenden es ihnen gestatten.
Das Regime kann nur weiterbestehen, wenn es seine Macht mit Gewalt sichert. Es lässt keine Kritik zu und sucht seine Opfer willkürlich aus. Brecht sagt, es sei nur Glück und Zufall, dass er noch nicht vernichtet wurde. Die Menschen leben in einer ausweglosen Situation, müssen ihr Überleben sichern und sind daher „nicht mehr erreichbar für .. Freunde, die in Not sind“ (Z.10/1). Sie können sich also gegenseitig nicht unterstützen, da sie selber hilflos sind. Die Nationalsozialisten sicherten ihre Macht ebenfalls mit Gewalt und verfolgten Systemkritiker. Daher lebten die Menschen in Unsicherheit und Angst, wie im ersten Abschnitt beschrieben wird.
Die fünfte Strophe unterscheidet sich von den vier vorherigen. Sie beginnt nicht mit einer Emphase und beschreibt nicht das Leben im Nationalsozialismus, sondern definiert den Begriff „Weisheit“. Brecht beruft sich auf die „alten Bücher“ (Z.22), also auf Lehren aus früheren Zeiten. Man soll „sich aus dem Streit der Welt halten“ (Z.23) und „ohne Gewalt auskommen“ (Z.25), also friedlich zusammenleben und sich nicht bekriegen oder gegenseitig Leid zufügen. Weisheit fordert Menschlichkeit und gegenseitige Hilfe. Böses soll mit Gutem bekämpft werden. Man solle seine Wünsche vergessen, wenn es anderen Menschen schadet. Nach diesen Werten kann das lyrische Ich nicht leben, da die Zwänge der nationalsozialistischen Gesellschaft dies nicht zulassen. Am Ende der fünften Strophe fasst Brecht die hoffnungslose Situation der Menschen noch einmal mit „wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten“ (Z.30) zusammen.

Im nächsten Abschnitt (Z.31-54) berichtet Brecht über sein Leben vor dem Nationalsozialismus, denn alle vier Strophen enden mit: „So verging meine Zeit, die auf Erden mir gegeben war“.1918 kam er aus dem Ersten Weltkrieg zurück, daher „in die Städte kam ich zur Zeit der Unordnung“ (Z.31). In der Bevölkerung herrschte große Armut und es kam zu Aufständen und revolutionären Unruhen. Der Kaiser musste abdanken und das deutsche Reich wurde zu einer demokratischen Republik. Da Brecht sagt: „Und ich empörte mich mit ihnen“ (Z.34), ist anzunehmen, dass auch er sich an den Aufständen beteiligte.
Zur Zeit der Weimarer Republik arbeitete Brecht als Autor von Theaterstücken. Er aß sein Essen „zwischen den Schlachten“ (Z.37), also zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg. Er legte sich „unter die Mörder“ (Z.38) schlafen, lebte also zwischen den späteren Nationalsozialisten. Bis 1933 ahnte jedoch niemand was später geschehen würde, daher genossen die Menschen das Leben, denn „der Liebe pflegte ich achtlos“ (Z.39). Brecht beklagt, dass er und die Bevölkerung die zunehmende Bedrohung des Nationalsozialismus nicht früh genug erkannten und deren Machtergreifung nicht verhindern konnten.
Nach der Weimarer Republik folgte 1933 das NS-Regime. Brecht emigrierte sofort nach dem Reichstagsbrand im selben Jahr und schrieb in seinem Exil einige gegen den Faschismus gerichtete Werke. „Die Sprache verriet [ihn] dem Schlächter“ (Z.44). Die Sprache ist einerseits ein Zeichen des Klassenunterschiedes, denn ein Kommunist benutzt meist eine andere Sprache als ein Nationalsozialist. Weiterhin drückt Brecht seine Kritik mit Hilfe der Sprache aus. Daher wird er zu einer Gefahr der Herrschenden, sodass diese ihn verfolgten, auch wenn er mit seinen Worten nur wenig verändern konnte. Brecht sagt ironisch, er hoffe, dass die Herrschenden ohne ihn sicherer sitzen würden. Dies zeigt wieder die Gewaltbereitschaft des Regimes, um die Macht zu erhalten und zu sichern. Brecht ist stolz einer ihrer Gegner zu sein.
Genau wie viele andere, wollte er den Nationalsozialismus bekämpfen. Die Aufständischen kannten zwar ihr Ziel, waren jedoch noch zu schwach um dieses zu erreichen. Besonders die Marxisten, zu denen Brecht zählte, glaubten, der Faschismus sei das Ergebnis eines todkranken Kapitalismus. Somit verbindet sich der Kampf gegen den Faschismus mit einer gewünschten sozialistischen Revolution.

Zuletzt (Z.55-74) appelliert er an die nachfolgenden Generationen um Verständnis für das Verhalten der Menschen. Die „Nachgeborenen“ sprechen von „den Schwächen“ (Z.58) der damaligen Bevölkerung, aber vergessen, dass diese von den Zwängen des Regimes geprägt war. Im Nationalsozialismus lebten die Menschen, wie Brecht im ersten Abschnitt beschreibt. Da sie zu schwach waren, konnten sie gegen die Gewaltherrschaft nichts unternehmen. Viele mussten fliehen, genauso wie Brecht es tat.
„Gingen wir doch, öfter als die Schuhe die Länder wechselnd, durch die Kriege der Klassen“ (Z.61/2). Brecht bedauert also, dass er zur Flucht gezwungen war. Er lebte in vielen Ländern, die er immer wieder verlassen musste, weil sie von den Nationalsozialisten besetzt wurden. Erst 1940 ging er in die USA. Anstelle von seiner Flucht, wünscht sich Brecht den Krieg der Klassen, also eine sozialistische Revolution in Deutschland. Leider gab es zu wenig Widerstand gegen die Ungerechtigkeit des NS-Regimes.
Im weiteren Verlauf ist die Definition von Weisheit, die im ersten Abschnitt gegeben wurde, von Bedeutung. Laut der alten Werte bedeutet Weisheit Menschlichkeit, Frieden und ein tugendhaftes Leben. Jetzt erklärt Brecht, dass die Widerständler das System ebenfalls nur mit Gewalt bekämpfen konnten, denn „Hass gegen die Niedrigkeit verzerrt die Züge“ (Z.65/6) und „die wir den Boden bereiten wollten für Freundschaft, konnten selbst nicht freundlich sein“ (Z.69/70). Zorn über das System verändert die Psyche des Menschen, sodass diese Gewalt nur noch mit Gewalt beantworten können.
Für dies alles sollen die Nachgeborenen Verständnis haben. Sie leben in einer anderen Gesellschaft, die nicht so grausam und unmenschlich ist wie das Dritte Reich, daher können sie sich gegenseitig unterstützen, also „der Mensch dem Menschen ein Helfer“ (Z.72) sein. Dies ist die sozialistische Gesellschaftsform, die Brecht sich wünscht. In ihr gelten Menschlichkeit und Gerechtigkeit und da die angesprochene Generation unter diesen Umständen aufgewachsen ist, kann sie das Verhalten ihrer Vorfahren nicht verstehen und verurteilt es. Brecht rechtfertigt die angewandte Gewalt der Widerstandsbewegungen gegen die Nationalsozialisten.
Quelle

12 Kommentare (+deinen hinzufügen?)

  1. bodyguard4you
    Okt 19, 2015 @ 00:29:14

    das ist doch mal etwas anderes … als die RAP- texte eines pickeligen idioten … der seine hose in den kniekehlen hängen hat … und die mütter seiner HOMIES reihenweise „beglücken“ will …

    danke dafür … verehrteste …

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    Antworten

  2. Ilanah
    Okt 19, 2015 @ 00:40:35

    Heyyy….jetzt schaffst du es glatt, dass ich auf meine alten Tage nochmal rot werde…. 😳
    Ich find den Text immer wieder klasse.
    Danke dir!! 🙂

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    Antworten

  3. Nacho
    Okt 19, 2015 @ 12:06:36

    Einfach nur gut!
    Nachos Leinenhalter Achim

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    Antworten

  4. kowkla123
    Okt 19, 2015 @ 14:50:22

    das ist ist echt super, Brecht mochte ich übrigens immer, wünsche eine gute Woche

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    Antworten

  5. Lutz
    Okt 19, 2015 @ 20:50:03

    Ein Gedicht das zum Nachdenken anregt. Dir noch einen schönen Abend. L.G.

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  6. kowkla123
    Okt 20, 2015 @ 14:41:54

    Alles Gute, schönen Tag für dich

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