Posted: 26 Oct 2016 04:06 AM PDT
Für mich ist eine Annäherung an dieses Thema vor allem auch interessant, weil ich wie angekündigt bald einen Text schreiben möchte, in dem ich klassischer Kritik entgegnen möchte. Die klassische Kritik ist wie folgt: Massen wurden als Kind misshandelt und gedemütigt und wurden nicht zu Mördern, Kriegstreibern oder Terroristen, folglich wird jeglicher Zusammenhang zwischen Kindheit und Gewalt bestritten. Meine Antwort darauf ist u.a., dass sich Folgen von Kindesmisshandlung sehr vielfältig ausdrücken können, Gewaltverhalten ist da nur eine mögliche Ausdrucksform.
Ist nun (lebensgefährlicher) Extremsport vielleicht eine von vielen möglichen „Farben“ der Gewaltfolgen? Und mit Gewalt meine ich nicht rein körperliche Elterngewalt, sondern das ganze Spektrum, inkl. Missachtungen und emotionaler Vernachlässigung, denn Extremsportler buhlen ja oftmals auch um eines: Anerkennung und Aufmerksamkeit.
In der Doku „Attention – A Life in Extremes“ (von Sascha Köllnreitner) – in der ARD wurde diese Doku kürzlich unter dem Titel „Leben am Limit – Extremsportler“ gezeigt – hat am Ende die im Film zuvor bereits häufig als Expertin zitierte ehemalige Weltklasseläuferin und Buchautorin Ines Geipel das Schlusswort: „Dieser Suchtmoment, dass du immer und immer wieder in diese Schneise gehst, psychisch ja, heißt natürlich, dass da etwas danach ruft, angenommen zu sein. eigentlich will jedes Kind befreit werden, es schreit regelrecht danach. Vielleicht sind das am Ende alles Kinderveranstaltungen, extrem.“ (sie lacht) In einer Besprechung der Doku wurde der entsprechende Artikel folgendermaßen betitelt: „Extremsportler – psychisch zwischen Kleinkind und Superheld“ Dass das ganze vielleicht etwas mit Kindheit zu tun haben könnte, fällt also offensichtlich auch anderen Beobachtern auf.
Besonders hellhörig machen mich aber auch Äußerungen wie diese von dem sehr bekannten Extremsportler Chris “Douggs” McDougall in der Doku „Freifall – Eine Liebesgeschichte“: „Wir sind nicht hier, um zu sterben. Aber wir mögen Risikosport, weil wir uns dabei lebendig fühlen.“
Ähnlich formulierte es der Extrembergsteiger Reinhold Messner in seiner Autobiographie „Mein Leben am Limit“. Messner wörtlich: „Mein Krankheitsbild ist umrissen mit: Lebenslust durch Einsatz des Lebens.“ Messner selbst hat über seine Eltern folgendes gesagt:
„Mein Vater war sehr streng. Einmal hat er meinen Bruder Günther so verprügelt, dass der sich in die Hundehütte verkroch. (…) Eine Kleinigkeit reichte, und er explodierte vor Wut. (…) Es gab oft Streit, den meine Mutter dann geschlichtet hat. Sonst hätte mein Vater mich halb umgebracht. (…) Die Mutter war das ausgleichende Element zu diesem strengen, unsicheren Vater.“ (focus, 08.08.2011, „Er hätte mich halb umgebracht„)
Dies ist in doppelter Hinsicht aufschlussreich. Zunächst das Trauma der Gewalt, aber auch eine ausgleichende Mutter, die er in seiner o.g. Autobiographie noch ausführlicher und sehr positiv beschreibt. Massenmörder und Terroristen hatten grundsätzlich niemanden, der ihnen im Angesicht von Gewalt und Demütigungen zur Seite stand, so die These von Alice Miller. Reinhold Messner ist ganz sicher durch diese schwere Gewalt seitens des Vaters traumatisiert, aber er ist ganz offensichtlich kein Gewalttäter, sondern hat seinen ganz eigenen, für ihn kreativen Weg gefunden, bedingt auch wiederum durch die Welt, in die er hineinwuchs und einen Vater, der zusammen mit Reinhold als dieser gerade mal fünf Jahre alt war, einen Dreitausender bestieg. (Umgekehrt ist die provokante aber vielleicht auch an sich schon erkenntnisreiche Frage spannend, ob z.B. ein Terrorist XY mit einem entsprechend destruktiven Kindheitshintergrund vielleicht kein Terrorist geworden wäre, hätte er seit jungen Jahren das Extrembergsteigen entdeckt und sich dadurch lebendig gefühlt. Denn Umwelt und Rahmen bestimmen natürlich immer auch den Weg eines Menschen, wie auch seine Ausdrucksweise oder Pseudoverarbeitung von Kindheitsleid. Dies als gedankliche Anregung, nicht als Werbung für Extremsport gedacht.)
Messners Weg will und kann ich gar nicht beurteilen. Ich selbst wundere mich einfach über Extremsportler, kann ihnen ihr Tun aber auch lassen. Sie handeln nicht vorsätzlich verletzend oder aggressiv gegen andere Menschen, sondern bringen max. sich selbst in Gefahr. In der o.g. Doku „Freifall – Eine Liebesgeschichte“ kamen allerdings zwei Dinge zu Tage: das unermessliche Leid der Hinterbliebenen, wenn solche Sportler tödlich verunglücken und das beständige Bangen und die Ängste von nahen Angehörigen wie Ehefrau und Kindern bzgl. dem Mann/Vater, wenn er wieder „auf Tour“ geht.
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